Lübeck – „Ohne Schiri geht es nicht!“ – So lautet ein Slogan, der um Fairplay und für den 23. Mann auf dem Platz um Verständnis werben soll. Wie ist es überhaupt als Schiedsrichter und was passiert von der Kreisklasse bis hin zu Länderspielen. HL-SPORTS traf Bundesliga-Schiedsrichter Tobias Stieler (Foto) zum Interview.
HL-SPORTS: Hallo Tobias, du bist Bundesliga-Schiedsrichter, hast aber immer einen Blick auch auf die Amateurligen. Wie empfindest du Gewaltausbrüche gegen Schiedsrichter?
Tobias Stieler: „Immer wenn ich solche Berichte lese, macht mich das sprach- und fassungslos. Am Ende des Tages ist es doch nur ein Fußballspiel, es geht maximal um drei Punkte und Schiedsrichter, die ehrenamtlich tätig sind und den Menschen Fußballspielen überhaupt erst ermöglichen, werden in ihrer körperlichen Unversehrtheit attackiert, weil sie vermeintlich eine Fehlentscheidung getroffen haben? So etwas kann ich nicht nachvollziehen.“
HL-SPORTS: Fehlentscheidungen sind menschlich, doch für den Spieler meist nicht nachvollziehbar. Wie gehst du damit um und was kannst du Schiedsrichtern und Spielern raten, um Feuer aus einer Situation zu nehmen?
Tobias Stieler: „Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, Spielern die vermeintlich strittige Situation kurz zu erläutern, also ihnen meine Wahrnehmung zu schildern. Und wenn dann tatsächlich einmal ein Fehler passiert ist, der im TV klar und deutlich erkennbar ist, gehe ich offensiv damit um. Intern analysiere ich dann, wie es dazu kommen konnte. Falsche Wahrnehmung, falsches Stellungsspiel, vielleicht fehlende Aufmerksamkeit bzw. nicht auf die Situation vorbereitet gewesen oder auch fehlende/falsche Abstimmung mit meinen Assistenten.“
HL-SPORTS: Welche Erfahrungen hast du mit Attacken auf deine Person in deiner Laufbahn gemacht?
Tobias Stieler: „Zum Glück keine. In der Bundesliga wirkt auf uns ja keine physische Gewalt ein, vielmehr ist es eine große psychische Belastung, wenn wir nach Fehlentscheidungen in sämtlichen Medien angezählt beziehungsweise vorgeführt werden.“
HL-SPORTS: Gerade vor ein paar Wochen wurde eine Szene aus der Bundesliga in dem Spiel HSV gegen Bayern heiß diskutiert. Franck Ribérys Hand war dabei im Gesicht von Nicolai Müller. Eine Verwarnung gab es nicht. Wie schwer ist es, so eine Situation zu beurteilen, wenn man keine TV-Bilder hat?
Tobias Stieler: „Eine Verwarnung gab es schon und diese Entscheidung empfinde ich als korrekt. Der Schiedsrichter hatte bei dieser Aktion zu beurteilen, ob das Verhalten von Franck Ribéry eine Unsportlichkeit darstellt, die mit Gelb zu sanktionieren ist, oder ob eine grobe Unsportlichkeit vorliegt, die mit einer Roten Karte zu bestrafen ist. Hierbei ist neben anderen Kriterien auch die Intensität des Vergehens mit einzubeziehen, die ich hier eher als gering einzustufen würde. Selbst Nicolai Müller hat es als nicht dramatisch empfunden, sogar anschließend amüsiert über den Vorfall berichtet. Natürlich haben wir Schiedsrichter hier einen Ermessensspielraum. Abwegig ist eine Rote Karte für diese Aktion zwar nicht, ich halte eine Verwarnung aber für ausreichend.“
HL-SPORTS: Bist du für den Einsatz eines TV-Beweises bei strittigen Szenen und wie könnte so ein Modell aussehen?
Tobias Stieler: „Derzeit wird ja gerade in der Bundesliga der sogenannte Video-Assistant-Referee (VAR) offline getestet. Der VAR soll Entscheidungen des Schiedsrichters bei spielentscheidenden Situationen (Strafstoß, Torerzielung und Rote Karte) überprüfen und dem Schiedsrichter diese Erkenntnis mitteilen. So sollen klare und eindeutige Fehler des Schiedsrichter-Teams vermieden bzw. korrigiert werden. Nächstes Jahr – so der derzeitige Stand der Entwicklung – wird der VAR in der Bundesliga „online“ gehen. Ich stehe dieser Neuerung offen gegenüber, gleichwohl sich erst in der Praxis zeigen wird, ob es tatsächlich sinnvoll ist oder nicht.“
HL-SPORTS: Einmal zu dir persönlich: Du pfeifst Bundesliga, Euro League und Länderspiele. Wie muss man sich so einen Tag inklusive Vor- und Nachbereitung vorstellen?
Tobias Stieler: „Es ist ja nicht nur ein Tag. In der Bundesliga und bei internationalen Spielen müssen wir immer am Vortag am Spielort sein. International steht nach Ankunft dann noch eine lockere Trainingseinheit im Stadion auf dem Programm, anschließend geht es zum Abendessen. Am Spieltag selbst herrscht meist derselbe Ablauf: kurzes Anschwitzen (Radfahren im Hotel oder ein lockerer Lauf), Frühstück und je nach Uhrzeit des Spiels gibt es noch ein Mittagessen oder wir werden ins Stadion gefahren. Nach dem Spiel erfolgt eine Analyse mit dem Schiedsrichter-Beobachter vor Ort und wenn es gut läuft, bin ich abends wieder in Hamburg. Bei internationalen Spielen reist man natürlich erst am Tag nach dem Spiel in die Heimat.“
HL-SPORTS: Bitte schildere eine ernste Szene aus deiner Laufbahn.
Tobias Stieler: „Pokalhalbfinale letzte Saison Bayern München gegen Werder Bremen. Es läuft die 70. Spielminute. Vidal dringt mit Ball am Fuß in den Strafraum von Bremen ein, Sternberg grätscht mit beiden Füßen voraus in Vidal hinein, spielt nicht den Ball, Vidal fällt, 70.000 im Stadion und über 8 Millionen Menschen am TV warten auf eine Entscheidung von mir. Ich stehe relativ gut, wenngleich mir die Sicht im entscheidenen Moment ein wenig verdeckt ist. Dennoch: Strafstoß. Keiner der Zuschauer im Stadion, der Offiziellen auf den Bänken oder der Spieler auf dem Feld (mit zwei Ausnahmen: Vidal und Sternberg) hatte einen Zweifel an der Korrektheit der Entscheidung. Die Ernüchterung kam in der Kabine, als ich feststellen musste, dass Sternberg zwar sehr riskant in den Zweikampf ging, Vidal aber um wenige Zentimeter verfehlte, damit kein Kontakt vorlag und Vidal in unsportlicher Weise mich täuschte. Das war kein schönes Erlebnis.“
HL-SPORTS: Und was war besonders lustig?
Tobias Stieler: „Alle Spiele mit Patrick Ittrich und Sascha Thielert.“
HL-SPORTS: Warum bist du Schiri geworden?
Tobias Stieler: „Als Jugendlicher habe ich natürlich leidenschaftlich Fußball gespielt. In der B-Jugend fragte mich mein damaliger Trainer, ob ich Interesse hätte, an einem Neulingslehrgang für Schiedsrichter teilzunehmen. Ich habe mich spontan dazu bereit erklärt, auch weil es neben meiner Leidenschaft für den Fußball eine nette Aufbesserung meines Taschengeldes bedeutete.“
HL-SPORTS: Du bist "nebenbei" Jurist. Wie sehr hilft dir das bei der Schiedsrichterei?
Tobias Stieler: „„Nebenbei“ war ich Jurist. Als ich als Schiedsrichter auf die FIFA-Liste kam, habe ich mich entschieden, meinen Beruf als Rechtsanwalt in einer Großkanzlei zu kündigen und mich zu 80 Proent auf den Fußball konzentrieren zu können. „Nebenbei“ studiere ich aktuell Psychologie, habe gerade meine Bachelorarbeit fertig gestellt und startete am 5. Oktober mit dem Masterstudium. Beides, sowohl Jura als auch Psychologie helfen natürlich bei der Spielleitung, im Detail wäre das aber eher ein Thema für eine Doktorarbeit als für ein Interview.“
HL-SPORTS: Was sind deine Ziele und Wünsche?
Tobias Stieler: „Gesund bleiben und einmal ein Champions-League-Spiel pfeifen.“
HL-SPORTS: Abschließend: Was kannst du Spielern und natürlich Schiedsrichtern mit auf den Weg geben?
Tobias Stieler: „Fair Play und Respekt!“
HL-SPORTS: Danke für das Interview.