Lübeck – Den Spitznamen „Kopfballungeheuer“ hat sich in Deutschland bisher nur Horst Hrubesch verdient. So machte sich der ehemalige Fußballprofi des Hamburger SV unsterblich, als er 1980 das Europameisterschaftsfinale gegen Belgien kurz vor der drohenden Verlängerung den Ball mit unwiderstehlicher Wucht ins gegnerische Tor rammte.
In der 3. Handball-Liga Nord machte sich zuletzt, wenn auch unfreiwillig Travemündes Torhüterin Charline Röhr einen solchen Namen.
Nicht weniger als acht Mal trafen ihre Gegenspielerinnen Röhr ins Gesicht. Das ist Pech und kann in einzelnen Fällen durchaus passieren. Doch wenn es einer Handballerin aus Rostock gleich dreifach innerhalb weniger Minuten „gelingt“, stellt sich der bittere Beigeschmack automatisch ein. Die Folge war eine Gehirnerschütterung mit einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt.
Es hat einige Zeit gedauert, ehe Röhr das alles verarbeitet hat. Doch mittlerweile nimmt es die 20-jährige mit Humor: „Bei uns bin ich definitiv Rekordhalterin. Überhaupt scheint mir mein Kopf manchmal irgendwie im Weg zu stehen (lacht). Vor gut einem Jahr, es war tiefster Winter und klirrend kalt, habe ich mit meinem Hund Sammy eine Runde im Park gedreht. Ich hatte mich über irgendeine Aktion Sammys so sehr gefreut, dass ich mich zu ihm heruntergebeugte, um ihn zu loben. Dabei hatte ich meine Stirn für wenige Sekunden auf eine Metallstange gelehnt. Ich hatte aber nicht daran gedacht, dass meine Mütze nass war. Jedenfalls fror diese an der Stange fest; es hat einige Zeit gedauert, bevor ich mich aus der Mütze und schließlich die Mütze von der Stange befreien konnte.“
So sehr wir uns in der Vorbereitung zu diesem Portrait über diese Anekdote amüsiert haben, durften wir gleich darauf einen sehr nachdenklichen und in sich gekehrten Menschen kennenlernen. „Es mag jetzt komisch klingen, aber tatsächlich bin ich ein Kopfmensch, der sich manchmal zu wenig Zeit nimmt. Als ich mit meiner Gehirnerschütterung in der Klinik lag, hatte ich die Möglichkeit, mir über mich und meine Zukunft Gedanken zu machen. Leider fühlte ich mich in diesen Tagen nutzlos, so dass es schnell wieder nach Hause ging. Die mir selbst verordnete Ruhepause habe ich nicht eingehalten, ich brauchte einfach wieder meine Action. Im Nachhinein war das ein Fehler, denn danach ging es mir wieder um einiges schlechter. Aber ich kann es einfach nicht ertragen, stillzusitzen. Mir wird nachgesagt, dass ich perfektionistisch und leistungsorientiert sei. Und das vielleicht gar nicht zu Unrecht. Es ist egal, ob privat oder bei meinen Raubmöwen, ich verlange mir selbst und anderen sehr viel ab.“
Und genau deshalb gehört Extremsportler Joey Kelly zu „Charlys“ großen Vorbildern: „Der schafft alleine durch seine Willenskraft viel mehr, als aus menschlichem Ermessen eigentlich möglich ist. Das finde ich einfach beeindruckend.“
Dass auch die 20-jährige in sportlicher Hinsicht schon einiges erreicht hat, beweist die laufende Saison. Im letzten Jahr noch auf Position zwei oder gar drei ist Röhr mittlerweile zur unverzichtbaren Nummer eins zwischen den Pfosten geworden. So trägt auch sie einen guten Teil zum bisherigen Erfolg des Tabellenführers bei. Wenn „Charly“ nicht spielt, ist sie trotzdem an fast jedem Wochenende in der Halle zu finden. Denn zusammen mit ihrer Schiedsrichterpartnerin Kimberly Seemann leitet sie Handballspiele in der Oberliga Hamburg/Schleswig-Holstein: „Wir hätten im Sommer durchaus in die 3. Liga aufsteigen können. Doch da spiele ich jetzt, deshalb haben wir verzichtet.“
Die berufliche Zukunft liegt noch vor der 20-jährigen. Seit ihrer Kindheit hegt sie den Wunsch, Medizin zu studieren. Um bis zu einem möglichen Beginn auch außerhalb des Sports einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, arbeitet Röhr stundenweise in der Bad Schwartauer Holstein-Therme. Dem eigentlich fest geplanten Studium sind in letzter Zeit einige Fragezeichen hintenangestellt worden. Zumindest, was die Richtung betrifft. „Für mich musste es bis jetzt immer Medizin sein. Doch das würde wahrscheinlich bedeuten, dass ich weg von hier müsste. Ich kann nicht von mir behaupten, dass mich hier nichts hält. Mich hält hier vieles.“
Das gilt in erster Linie natürlich für die eigene Familie, aber auch, und das betont „Charly“ ausdrücklich, für ihre Raubmöwen: „Mein Kopf sagt natürlich, dass ich an mein Studium denken muss, zumal die sportliche Karriere zeitlich sehr eingegrenzt ist. Ich überlege aber irgendwie schon, einen anderen Studienweg zu gehen. Ich fühle mich beim TSV Travemünde einfach gut aufgehoben. Die Raubmöwen sind meine Mannschaft, da gehöre ich hin. Aber wie gesagt, das sind jetzt alles erst einmal nur Überlegungen. Mit der Entscheidung werde ich mir die Zeit nehmen, die ich brauche.“
Name: Charline Röhr
Spitzname: Charly
Geburtstag: 19.08.1993
Geburtsort: Lübeck
Größe: 169 cm
Gewicht: 64 Kg
Position: Tor
Trikotnummer: 19
Verein: TSV Travemünde
Frühere Vereine: VfL Bad Schwartau
Privat mache ich gerne: klettern, schwimmen, mountainbiken, Freunde treffen
Lieblingsgericht: Rahmspinat mit zwei Spiegeleiern und Kartoffeln
Lieblingsgetränk: schön kalte Milch nach dem Training
Lieblingsmusik: aktuelle Charts
Lieblingsfilm: „The Guardien – jede Sekunde zählt“ und „Mavericks“
Lieblingsort: Die Steilküste von Travemünde
Haustier: Golden Retriever (Sammy; 12 Jahre), Wellensittich (Jogi)
Meine Vorbilder in der Jugend: Joey Kelly, Johannes Bitter
Mein schönstes Erlebnis im Sport: Das Durchhalten des 12 Stundenlaufs sowie die Teilnahme am 24 Stundenschwimmen.
Das Besondere in einem Spiel für mich war: Den Punkt erreicht zu haben, an dem der Kopf nicht mehr denkt und es wie von selbst möglich war, besser denn je zu spielen und über sich hinauszuwachsen.
Ich möchte mit meinem Team und auch persönlich in Zukunft folgendes erreichen:
Mit meinem Team möchte ich erreichen, dass jeder es schafft, seine Grenzen noch ein Stückchen weiter zu verschieben und sich optimal weiterentwickelt, und dass wir gemeinsam weiter kämpfen und für einander einstehen, wie bisher geschehen!
Persönlich möchte ich in Zukunft weiter hart an mir arbeiten und mich jeden Tag ein bisschen weiterentwickeln.
Ich spiele am liebsten in und warum: In der Steenkamphalle in Travemünde, denn da ist die Stimmung von den Fans grandios!
Trainingsmotto: Perfection is not attainable, but if we chase perfection we can catch excellence (Vince Lombardi).
Wo ich gerne einmal spielen möchte: In der ausverkauften Scandinavium Arena in Göteborg